Einblicke in die Finanzwelt: Im Gespräch mit Markus Wiedemann, Chief Investment Officer der LLB-Gruppe

Die Eskalation im Nahen Osten hat kurzfristig Verunsicherung geschaffen, aber die Anleger gehen derzeit davon aus, dass der Konflikt regional begrenzt bleibt.
Die Schweiz hat bereits in diesem Jahr Preisstabilität erreicht. Davon konnten Obligationen in Schweizerfranken profitieren, was das Renditepotenzial für 2024 begrenzt. Attraktiv erscheinen uns EUR- und insbesondere USD-Obligationen.

Angesichts der aktuellen Marktlage und der zu erwartenden Konjunkturschwäche empfehlen wir eine vorsichtige Positionierung in Aktien. Die Bewertungen des US-Aktienmarktes signalisieren potenzielle Risiken, und eine leichte Untergewichtung der Aktienquote erscheint derzeit gerechtfertigt, auch wenn der Schweizer Markt inzwischen günstig bewertet ist.

In einem ausführlichen Interview mit Markus Wiedemann, dem Chief Investment Officer der LLB-Gruppe, werfen wir einen Blick auf die Hintergründe der aktuellen Entwicklungen an den Finanzmärkten. Er teilt seine Einschätzungen zur volatilen Seitwärtsbewegung an den Aktienmärkten im zweiten Halbjahr, den Auswirkungen geopolitischer Ereignisse auf die Weltwirtschaft und gibt Einblicke in Prognosen zur Inflations- und Zinsentwicklung.

Herr Wiedemann, warum ist der Kursanstieg an den Aktienmärkten im zweiten Halbjahr ins Stocken geraten?

Der globale Aktienindex (MSCI) hat vom 31. Juli bis zum 27. Oktober 2023 fast 11 Prozent an Wert verloren. Dieser Kursrückgang fiel zeitlich mit dem Anstieg der langfristigen Renditen an den Obligationenmärkten zusammen, der insbesondere in den USA markant ausgefallen ist. Es ist naheliegend, im Renditeanstieg die Ursache für die schwachen Aktienmärkte zu sehen. Für diese Einschätzung spricht auch, dass sich die Aktienkurse mit dem Rückgang der Obligationenrenditen zuletzt wieder erholt haben.  

Allerdings ist die Frage, warum die Renditen in den USA so kräftig gestiegen sind, nicht einfach zu beantworten. Auch die klassischen Renditetreiber Geldpolitik und Inflationserwartungen können den Anstieg nicht erklären. Die amerikanische Notenbank hat den Leitzins letztmals am 26. Juli erhöht, und die Inflationserwartungen haben sich stabilisiert, nachdem sich der Anstieg der Verbraucherpreise verlangsamt hat. Manche Marktteilnehmer haben das hohe Defizit im amerikanischen Bundeshaushalt für den Renditeanstieg verantwortlich gemacht. Aus meiner Sicht ist am wahrscheinlichsten, dass die Anleger von einem zukünftig höheren realen Zinssatz ausgingen. Die Zinsprognosen der Mitglieder des Offenmarktausschusses im September haben diese Erwartung noch verstärkt, wodurch die Renditen deutlich angestiegen sind.    

Inwiefern hat sich die jüngste Eskalation des Nahostkonflikts negativ auf die Aktienmärkte ausgewirkt?

Die Eskalation dieses Konflikts hat an den Aktienmärkten nur kurzfristig für Verunsicherung gesorgt. Die israelische Wirtschaft wird als Folge der Auseinandersetzungen im vierten Quartal voraussichtlich deutlich schrumpfen. Experten halten einen BIP-Rückgang von bis zu 2 Prozent für wahrscheinlich. Dieser Konjunktureinbruch wird die Weltwirtschaft jedoch nicht wesentlich beeinflussen. 

Kritischer wäre ein markanter Anstieg des Ölpreises als Folge des Konflikts. Der Ölpreis müsste allerdings über einen längeren Zeitraum deutlich über USD 100 pro Fass liegen, um signifikante Bremsspuren in der Weltwirtschaft zu hinterlassen. In einer ersten Reaktion auf die Eskalation des Konflikts ist er kurzfristig zwar gestiegen, konnte die Gewinne aber nicht behaupten. Die Anleger scheinen derzeit davon auszugehen, dass der Konflikt regional begrenzt bleibt. Da niemand den genauen Verlauf vorhersagen kann, bleibt ein Restrisiko.   

Der Schweizer Aktienmarkt gehört in diesem Jahr zu den Schlusslichtern. Worauf führen Sie das zurück?

Der Schweizer Aktienmarkt konnte in diesem Jahr trotz aller Unsicherheiten nicht von seinem defensiven Charakter profitieren. Vergleicht man die Entwicklung der verschiedenen Aktienmärkte in lokaler Währung, hat sich der Schweizer Markt unterdurchschnittlich entwickelt. In Schweizer Franken gerechnet, reduziert sich sein Rückstand aber deutlich. Die schwache Performance dürfte damit zu mehr als einem Drittel auf die Stärke des Franken zurückzuführen sein. Der Franken hat gegenüber den meisten wichtigen Währungen auch in diesem Jahr aufgewertet, wobei die Aufwertung gegenüber dem japanischen Yen und den klassischen Rohstoffwährungen, kanadischer Dollar, australischer Dollar und norwegische Krone, besonders ausgeprägt ausgefallen ist. Als Folge der diesjährigen Unterperformance ist der Schweizer Markt günstiger geworden und das sollte sich positiv auf die zukünftige Entwicklung auswirken.

Die Inflationsraten sind in den vergangenen Monaten gesunken. An den Finanzmärkten scheint es jedoch hinsichtlich der weiteren Inflationsentwicklung noch Unsicherheit zu geben. Wie beurteilen Sie die Inflationsaussichten?

Dass die Inflationsraten in diesem Jahr zurückgehen werden, war vorhersehbar. Die Treiber des Inflationsrückgangs waren vor allem die Energie- und Rohstoffpreise sowie die Entwicklung der Güterpreise. Im Dienstleistungssektor ist es bisher nur zu einer moderaten Verlangsamung des Preisanstiegs gekommen.  

Ein Grund für die Unsicherheit über die weitere Inflationsentwicklung sind die angespannten Arbeitsmärkte. Obwohl die Löhne in Europa in diesem Jahr kräftig gestiegen sind, gibt es bisher kaum Anzeichen für eine Preis-Lohn-Spirale. In den USA sind die Lohnzuwachsraten bereits rückläufig. 

Mit der sich in den kommenden Quartalen abzeichnenden Konjunkturschwäche wird die grosse Nachfrage auf den Arbeitsmärkten langsam abklingen. Der Lohndruck sollte deshalb weiter nachlassen, und das wird sich zumindest im ersten Halbjahr 2024 günstig auf die Inflationsraten auswirken. Der Rückgang der Inflationsraten wird jedoch weniger steil sein als noch in diesem Jahr. 

Aus Sicht der Notenbanken scheint es keinen Spielraum für Zinssenkungen zu geben, solange die Inflationsraten über dem Zielbereich liegen. Wie beurteilen Sie die weitere Zinsentwicklung?

Die Leitzinsen dürften in diesem Zinszyklus ihren Höhepunkt erreicht haben. In der Tat sehe ich aufgrund der sich abschwächenden Konjunktur und des nachlassenden Teuerungsdrucks einen Spielraum für Zinssenkungen im nächsten Jahr. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass die Zinsen in den kommenden Jahren die Niveaus vor der Pandemie erreichen werden. 

Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie für die Anlagepolitik?

Bei anlagepolitischen Entscheidungen sollte man sich nicht von kurzfristigen Marktbewegungen beeinflussen lassen, sondern eher nach Risikoprämien suchen. Im Gegensatz zu den meisten anderen entwickelten Volkswirtschaften hat die Schweiz bereits in diesem Jahr Preisstabilität erreicht. Davon konnten Obligationen in Schweizer Franken profitieren, was allerdings das Renditepotenzial für 2024 auf den Coupon von etwa zwei Prozent begrenzt. Attraktiv erscheinen uns EUR- und insbesondere USD-Obligationen. Dort sollte man zum Coupon von etwa dreieinhalb Prozent im Euro und etwa fünf Prozent im US-Dollar auch Kursgewinne auf Obligationen erzielen können. Aus diesem Grund haben wir die Quote der Obligationen guter Bonität durch den Zukauf von USD-Obligationen währungsgesichert in Schweizer Franken übergewichtet. Trotz der jüngsten Kursrally dürfte das Potenzial noch nicht ausgeschöpft sein. 

Die Aussichten für Aktienanlagen sind aufgrund gegensätzlicher Einflussfaktoren schwieriger zu beurteilen. Sinkende Zinsen wirken über Bewertungsaufschläge positiv auf die Aktienkurse. In Anbetracht der zu erwartenden Konjunkturschwäche scheinen die aktuellen Gewinnwachstumsschätzungen für 2024 von 11 Prozent für den MSCI-Weltindex unseres Erachtens allerdings recht hoch. Die hohe Bewertung des amerikanischen Aktienmarktes, der mit einem Gewicht von über 60 Prozent den MSCI-Weltaktienindex dominiert, deutet zudem darauf hin, dass eine mögliche Rezession in den USA noch nicht eingepreist zu sein scheint. Aufgrund dieser Unwägbarkeiten ist eine leichte Untergewichtung der Aktienquote unseres Erachtens gerechtfertigt, auch wenn Schweizer und europäische Aktien inzwischen günstig bewertet sind. 

In unseren Anlagestrategien gehen wir nur vereinzelt Währungswetten ein. Nachdem die japanische Notenbank die Zinskurvenkontrolle faktisch aufgegeben hat, dürfte dort eine Abkehr von den negativen Geldmarktzinsen bevorstehen. Da die US-Zinsen im gleichen Zeitraum sinken dürften, wird sich die Zinsdifferenz zugunsten des Yen verschieben. Unter den grossen Währungen ist der Yen zudem mit Abstand am günstigsten bewertet. Da auch technische Faktoren für eine Erholung des Yen sprechen, verzichten wir deshalb vorübergehend auf die Absicherung des Yen in unseren Portfolios.    

Gold sehen wir aufgrund der hohen Volatilität weiterhin nur als Depotbeimischung.

Portrait Markus Wiedemann
Markus Wiedemann, Chief Investment Officer. Liechtensteinische Landesbank AG.

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